Herbert, der Löwe
Vor 50 Jahren hat Herbert Gertitschke den Dachauer Fanklub des TSV 1860 München gegründet. Er ist der zweitälteste in ganz Deutschland. In einem Erinnerungsbüchlein erzählt er seine Geschichte. An diesem Samstag wird mit viel Vereinsprominenz gefeiert
Wer verstehen will, warum Herbert Gertitschke den Titel "Herbert, der Löwe" für sich beansprucht, sollte folgende Passage aus seinen Erinnerungen lesen: "Es war der 27. Juni 1967, als ich in Dachau mit 20 Freunden im Vereinslokal des TSV Dachau 1865 den Dachauer Löwenklub mitbegründet habe und sein Vorstand werden sollte. Du dumme 1860-Sau haben sie mich genannt. Du bist nichts und du kannst nichts. Bitterlich habe ich zu Hause geweint. Dann schrie ich auf wie ein verwundeter Löwe: Euch werde ich zeigen, was ich kann. Den Namen Löwenklub Dachau werdet ihr niemals vergessen und meinen Namen auch nicht."
Der Ur-Löwe Gertitschke sollte Recht behalten: Er zeigte allen seine Pranken. Der Fanklub, den er damals gegründet hat, überdauerte Erfolge wie Misserfolge und feiert an diesem Samstag seinen 50. Geburtstag. Deutschlandweit gilt er als zweitältester Fanklub überhaupt. Zu der großen Feier im Vereinsheim des TSV Dachau 1865 erwartet Gertitschke 150 Gäste aus der Löwenwelt: Bubi Bründl aus der Meistermannschaft, den amtierenden Präsidenten Robert Reisinger, den Dachauer Unternehmer und Ex-Präsidenten Dieter Schneider, die Fan-Beauftragte Jutta Schnell und Kulttrainer und 1860- Funktionär Karsten Wettberg. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Löwen-Fanklubs aus ganz Bayern, ob aus Sigmertshausen, Alzey oder Rattelsdorf.
Gertitschke ließ sich schon als Bub von seiner Oma Auswärtsfahrten schenken.
Aber um Namen geht es in dieser Geschichte eigentlich nicht. Es steht außer Frage, dass Gertitschke als Ehrenpräsident der Arbeitsgemeinschaft, unter der sich alle Löwen-Fanklubs vereinen, immer noch eine Institution bei 1860 ist. Die Arge mischt in der völlig verfahrenen Vereinspolitik mit. Herbert Gertitschke sagt mit resignativem Unterton, dass er darüber nicht mehr reden mag: "Ich will auf keinen Fall Freundschaften zerstören."
Viel wichtiger ist ihm, ein leidenschaftlicher Fan zu sein. Einer, der sich von seiner Oma zu Weihnachten eine Auswärtsfahrt ins Hamburger Volksparkstadion schenken ließ oder seinen Schulleiter um zwei freie Tage anbettelte, um zu einem Europokalspiel nach Zürich zu reisen. Einer, der die einzige Deutsche Meisterschaft des Vereins 1966 im Stadion miterlebt hat und noch feuchte Augen bekommt, wenn er davon erzählt. Einer, der nach 50 Jahren noch sämtliche Torschützen und Zuschauerzahlen seiner miterlebten Spiele kennt. Der Mann hat immerhin 1300 Punkt- und Pokalspiele im Stadion gesehen.
Manchmal radelte der Teenager von Dachau zum Stadion in Giesing
All die Anekdoten hat Gertitschke, der in der Verwaltung der Bereitschaftspolizei Dachau arbeitete, in den Neunzigern in einem wundervollen Buch festgehalten. Er beginnt seine Erzählung an dem Tag, als sein Vater ihn an der Hand nahm und sagte: "Bub, wir fahren jetzt in das Stadion an der Grünwalder-Straße." Drei Jahre später, nach einem Heimspiel gegen Dortmund mit 45 000 Zuschauern, sprang der Funke endgültig über. Schon bald wagte sich der 15-jährige Bub von Dachau alleine mit dem Zug zum Münchner Hauptbahnhof und von dort mit der Tram-Linie 17 zum Grünwalder Stadion. Aus Geldnot radelte er manchmal sogar bis nach Giesing. Aus einem weiß-blauen Stoff und einem Bambusstock baute er sich eine Fahne, "wie sie in jener Zeit keiner besaß. Siege oder Unentschieden wurden von meiner Mutter in Gold eingestickt, Niederlagen erhielten die deprimierende Farbe schwarz."
In jener Zeit feierte der TSV 1860 München die größten Erfolge seiner Vereinsgeschichte. Mit Spielern wie Petar Radenković, Fredy Heiß oder Rudi Brunnenmeier wurden die Löwen innerhalb von zwei Jahren deutscher Pokalsieger (1964), deutscher Meister (1966) und standen im Finale des Europapokals der Pokalsieger. Es waren unvergessliche Erlebnisse, von denen der 69-Jährige heute noch zehrt. Über das Heimspiel gegen den AC Turin 1965 schreibt er: "40 000 Zuschauer, in sportlichem Anstand, aber wie irre gewordene Furien der Anfeuerung, schrien 1860 zu einem 3:1- Erfolg."
In einem Buch erinnert sich Gertitschke an Fanfreundschaften
An anderen Stellen erzählt Gertitschke von 250 Auswärtsfahrten, die ihn auf den Gladbacher Bökelberg, das Müngersdorfer Stadion in Köln oder die Kampfbahn Rote Erde in Dortmund führten. Viele der Stadien tragen heute Namen von Versicherungsunternehmen oder großen Energielieferanten. Seine Löwen-Freunde hießen damals Hasenbergl-Günther oder 60er-Toni, einfache Leute, auf die man sich verlassen konnte. Besonders auswärts wurde nicht wenig getrunken. Einige Erlebnisberichte erzählen recht anschaulich von Saufgelagen. Gertitschke aber wehrt sich in seinem Buch gegen das Vorurteil, Fußball-Fans seien primitiv oder kriminell. "Fan zu sein ist kein Inbegriff von Primitivität, es ist vielmehr ein Ausdruck von Empfindungen, die alle gefühlsbetonten Menschen ergreifen können."
Mit dem Löwenklub Dachau wurde Gertitschke als Trainer später deutscher Meister und dreifacher Europapokalsieger gegen andere Fanklubs. Er war jahrelang ungeschlagener Nationaltrainer und Präsident einer europäischen Fanklub-Vereinigung. Die sportlichen Erfolge seines Vereins TSV 1860 wurden jedoch rarer. Er erlebte den Abstieg in die Bayernliga, später aber auch den Durchmarsch von der dritten zurück in die erste Liga. Es folgten nochmals schöne Jahre sogar mit Europapokalfahrten nach Wien und Florenz.
Jetzt aber spielen die Sechzger wieder in der vierten Liga in ihrem altehrwürdigen Grünwalder Stadion. Den Zwangsabstieg in die Regionalliga bezeichnet er mit dem Lizenzentzug 1982 als "den schwärzesten Tag in meinem Löwen-Leben". "Wenn jemand sagt schlimmer geht's nicht, dann können wir uns noch steigern." Sein nächstes Auswärtsspiel führt Herbert Gertitschke nach Seligenporten.
Von Benjamin Emonts, Dachau